Rodion Nikitins (14.4.1915 *) – Ein Artistenleben unter sowjetischer und nationalsozialistischer Herrschaft

Der in Lettland geborene Zirkuskünstler Rodion Nikitins trat während des Zweiten Weltkrieges in verschiedenen Zirkussen, Varietés und Theatern in Lettland, Deutschland und dem von den Nationalsozialisten besetzten Prag auf. In seiner Autobiografie „Über Flucht und Freiheit“ von 1987 räumte Nikitins ein, dass ihm  ̶  im Vergleich zu seinen lettischen Freunden und Verwandten  ̶  mehr Optionen während des Zweiten Weltkriegs zur Verfügung standen.
Als die Rote Armee 1940 Lettland besetzte, trat Nikitins im lettischen Circus Salamonski in Riga auf. Die neuen Herrscher ordneten an, dass der Zirkus jeden Monat ein neues Programm aufzuführen habe. Die lettischen Zirkusdarsteller traten während der gesamten sowjetischen Besatzungszeit auf, weil die sowjetischen Behörden das Unterhaltungsgenre Zirkus als wichtig für die Aufrechterhaltung der Moral unter der lettischen Zivilbevölkerung ansahen. Gleichzeitig wurden viele von Nikitins‘ lettischen Mitbürger von den sowjetischen Sicherheitsbehörden nach Siberien verschleppt.

Am 22. Juni 1941 begann das Unternehmen „Barbarossa“, der Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Die Besetzung Lettlands durch deutsche Truppen wurde am 10. Juli 1941 vollendet. Auch die neuen Besatzer beharrten darauf, dass der Zirkus  ̶  nach inhaltlichen Änderungen im Programm  ̶  seinen Betrieb fortsetzte. Die konstante Anspannung, die der Krieg hervorrief, ließen Nikitins und seinen Partner Koni in ihren Vorführungen immer größere akrobatische Risiken eingehen. Nach einer ihrer spektakulären und riskanten Shows kam ein Mitglied der NSDAP in Parteiuniform auf die Bühne und erklärte: „Was für ein Finale! Solange wir solche Männer haben, können wir den Krieg gar nicht verlieren!“

Als sich die militärische Lage an der Ostfront für die deutsche Wehrmacht verschlechterte, befürchtete Nikitins seine Einberufung zum Wehrdienst. In dieser Situation entschloss sich Nikitins, seinen Künstlerberuf und guten artistischen Ruf zu nutzen, um ein Engagement in Deutschland zu erhalten. Sein Bruder Leo reiste als persönlicher Bühnenassistent mit ihm. Um die Anwesenheit des Bruders auf der Bühne endgültig zu rechtfertigen, entwickelte er mit ihm eine lustige Akrobatiknummer.

Nikitins präsentierte seine Show in Berlin, Magdeburg und Hamburg. Bei einem nächtlichen Luftangriff auf Hamburg wurde das Theater, in dem er auftrat, ausgebombt. Als Höhepunkt des Programms war Nikitins erst zum Schluss aufgetreten und hatte sein technisches Material auf der neu verstärkten Bühne stehen lassen. Wie durch ein Wunder stand Nikitins‘ Equipment noch unberührt auf der Bühne, aber das Theater mit samt seinen Mauern waren zerstört worden.

Nachdem die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte zugenommen hatten, entschied sich Nikitins, in dem von Deutschland besetzten Prag aufzutreten. Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes im Frühjahr 1945 wurden nichtdeutsche Künstler wie Nikitins von einheimischen Milizen in Prag in einer Schulunterkunft unter Aufsicht gestellt. Als er einem dort ebenfalls arrestierten deutschem Kriegsgefangenen Feuer für eine Zigarette anbot, hätte diese beinahe zu Nikitins‘ Hinrichtung geführt. Seine Bewacher hatten Nikitins‘ Handlung als Akt der Sympathie für die vorherigen Besatzern gewertet.

Schon bald nach Eintreffen in der amerikanischen Zone fand in Heidelberg und anderen Städten in der Umgebung Arbeit, indem er amerikanischen Truppen artistisch unterhielt. Nachdem er erkannte, dass seine Heimatland Lettland nach dem Krieg die Unabhängigkeit nicht wiedererlangen würde, beschloss er, in die USA auszuwandern. Nikitins wurde US-amerikanischer Staatsbürger, doch er musste seine Karriere neu ausrichten und gründete in Seattle Schulen für Gymnastik und Tanz. Seine Ausdauer, Vielseitigkeit und sein Mut, halfen ihm auch diesen Lebensabschnitt zu meistern.

Autor: Pauliina Räsänen
Quelle: Nikitins, Rodion: Of Flight and Freedom. Hand Voltage Publications, Seattle, WA, USA 1987.

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