Die Brüder Arthur (1882-1942) und Rudolf Lorch (1893-1944) – Briefe aus südfranzösischen Internierungslagern

Die Brüder Arthur und Rudolf Lorch entstammten einer traditionsreichen deutsch-jüdischen Zirkusfamilie, die ihren Wohnsitz im südhessischen Eschollbrücken hatte. Gemeinsam mit ihrem ältesten Bruder Julius bildeten sie den Kern der weltberühmten Ikarier-Truppe „Lorch Family“, die von ihrem Vater Louis Lorch gegründet worden war und der zeitweise auch ihre weiteren Geschwister angehörten. Neben den regelmäßigen Tourneen durch Deutschland und Westeuropa gastierte die „Lorch Family“ zwischen 1909 und 1912 bei den Ringling Brothers in den USA und begleitete von 1923 bis 1925 den Zirkus Sarrasani auf einer Südamerikatournee. 1927 gründeten Julius, Arthur und Rudolf den Wanderzirkus „Gebrüder Lorch“, wurden jedoch drei Jahre später ein Opfer der Weltwirtschaftskrise. Nach dieser Pleite kehrten sie zu ihrer ursprünglichen Auftrittsform zurück.

Werbeplakat der Ringling Brothers mit der „Lorch Family“ als einem der Programmhöhepunkte, 1909 (Circopedia.org)

Durch die nationalsozialistischen Auftrittsverbote für jüdische Artisten sahen sich die drei Brüder im Oktober 1933 gezwungen, Deutschland zu verlassen, während Julius‘ Frau Sessie (1875-1943) und Rudolfs nichtjüdische Frau Liddy (1897-1979) in Eschollbrücken blieben. Gemeinsam mit ihrer Schwester Jeanette verlegten die Lorch-Brüder ihren Wohnsitz nach Belgien, von wo aus sie in den folgenden Jahren die westeuropäischen Länder bereisten. Eine Übersiedlung nach England, wo ihr Bruder Adolf (1887-1940) mit Unterbrechungen seit längerem lebte, scheiterte daran, dass die britischen Behörden der Artistentruppe nur Sechswochen-Visa gewährten. Nachdem dem zuckerkranken Julius 1938 ein Bein amputiert worden war, kümmerte sich seine Schwester Jeanette um ihn, während Arthur und Rudolf für den Lebensunterhalt sorgten.

Als die Wehrmacht am 10. Mai 1940 das neutrale Belgien überfiel, nahm die belgische Polizei noch am gleichen Tag tausende deutschstämmige Männer im waffenfähigen Alter als „feindliche Ausländer“ fest und deportierte sie in Absprache mit der französischen Regierung in das südfranzösische Internierungslager Saint-Cyprien. Arthur und Rudolf Lorch gehörten zu den Verhafteten. Als jüdische Internierte wurden sie auch nach der französischen Kapitulation nicht freigelassen, sondern durchliefen verschiedene Lager in Südfrankreich. In erhalten gebliebenen Briefen an ihre Geschwister in Brüssel beschrieben sie die Lager Saint-Cyprien und Gurs als besonders bedrückend, während ihnen Noé, Saint-Gaudens und Vernet weitaus erträglicher erschienen. Dank ihres weitverzweigten Zirkusnetzwerkes erhielten die internierten Brüder neben den allgemeinen Spenden internationaler Hilfsorganisationen auch immer wieder Lebensmittelpakete und Geldtransfers von Privatpersonen. Dennoch führte die Mangelernährung dazu, dass Arthur und Rudolf stark abmagerten und ihnen einzelne Zähne ausfielen. Als Rudolf am diabetischen Fußsyndrom erkrankte, wurde er zur Behandlung nach Saint-Gaudens verlegt, wo ihm im Mai 1942 mehrere Zehen amputiert werden mussten. Wenig später erfuhr er von Jeanette, dass sein Bruder Julius in Brüssel verstorben war. Doch auch seinen Bruder Arthur, der im August 1942 von Noé nach Auschwitz deportiert wurde, sollte er nie mehr wiedersehen. Gleiches galt für Rudolfs Schwägerin Sessie und seinen Bruder Eugen (1885-1943), die im März 1943 von Eschollbrücken aus nach Auschwitz verbracht wurden. In einem seiner letzten Briefe vom April 1944 schrieb Rudolf Lorch über die Angst, dass ihm und seinen Mitgefangenen „doch noch dasselbe Schicksal wie Arthur passieren“ könnte. In der Tat wurde er einen Monat später von Vernet aus über Drancy nach Auschwitz deportiert, wo sich seine Spur verliert.

Die Brüder Julius, Adolph, Arthur, Rudolf und Eugen Lorch, um 1930 (Verein für Heimatgeschichte Eschollbrücken/Eich)

Jeanette Lorch, welche die Briefe ihrer verstorbenen Brüder Arthur und Rudolf aufbewahrt hatte, kehrte nach dem Krieg in ihr Elternhaus nach Eschollbrücken zurück.

Autor: Martin Holler

Quellen:

Hessisches Hauptstaatsarchiv zu Wiesbaden, 518/39380, 518/45887, 518/45954 und 518/45970; ITS Archives Bad Arolsen, 1.1.9.1/11180532 und 1.1.9.1/11184325; Kober, August Heinrich: Die große Nummer. Berlin 1925; Günther, Ernst: Sarrasani, wie er wirklich war. Berlin 1991; Roth, Wolfgang: Juden in Eschollbrücken. Eschollbrücken 1996; Bervoets-Tragholz, Marcel: La liste de Saint-Cyprien. L’odyssée de plusieurs milliers de Juifs expulsés le 10 mai 1940 par les autorités belges vers des camps d’internement du Sud de la France, antichambre des camps d’extermination. Brüssel 2006; Stadtarchiv Pfungstadt (Hrsg.): Abschied ohne Wiederkehr. Jüdisches Leben in Pfungstadt 1933-1945. Pfungstadt 2007; Arbeitskreis ehemalige Synagoge Pfungstadt e.V. (Hrsg.): Briefe aus den Lagern. Briefe der Brüder Arthur und Rudi Lorch aus Gurs, Noé und anderen Lagern in Südfrankreich. Pfungstadt 2014.

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